Heftige Kritik am Schulgesetz- entwurf der Landesregierung - Hohe Hürden für die Errichtung neuer Gesamtschulen

Aus der EuW, Zeitschrift der GEW, 19.05.08

"Gesetz zur Neuordnung der beruflichen Grundbildung und zur Änderung anderer schulrechtlicher Bestimmungen" hat die Regierungskoalition von CDU und FDP ihren Entwurf zur Änderung des Niedersächsischen Schulgesetzes genannt. Im Zentrum der ersten Lesung am 8. Mai 2008 stand aber nicht die berufliche Bildung, sondern die Auseinandersetzung über die geplanten Bestimmungen zur Errichtung von Gesamtschulen. Das generelle Verbot, neue Gesamtschulen zu errichten, soll zwar aufgehoben werden, der Gesetzentwurf sieht aber für die Errichtung neuer Gesamtschulen hohe Hürden vor.

Grundsätzlich solle das "begabungsgerechte" gegliederte Schulwesen Vorrang haben, heißt es in der Begründung des Gesetzentwurfs. Neue Gesamtschulen müssten die Ausnahme bleiben und dürften "allenfalls ein Angebot" sein, mit dem an bestimmten Standorten einem "besonderen schulischen Bedürfnis" Rechnung getragen werden könne. Das herkömmliche Schulwesen dürfe durch neue Gesamtschulen nur "ergänzt", aber nicht ersetzt werden.

Ergänzung des herkömmlichen Schulwesens

Im Gesetzentwurf der beiden Koalitionsfraktionen werden die Gesamtschulen folgerichtig als "Ergänzung zur Regelform des gegliederten Schulsystems" bezeichnet, das "auf Dauer gesichert bleiben" müsse. Deshalb müssten Schülerinnen und Schüler, die eine an ihrem Wohnort neu errichtete Gesamtschule nicht besuchen wollen, "unter zumutbaren Bedingungen" eine herkömmliche weiterführende Schule besuchen können. Diese Grundsätze sollen nicht nur für Integrierte Gesamtschulen, sondern auch für Kooperative Gesamtschulen gelten; eine Unterscheidung wird nicht vorgenommen.

Wenn eine neue Gesamtschule errichtet werden soll, muss zuvor ein "unabweisbares Bedürfnis" nachgewiesen werden. Dazu müssen die kommunalen Schulträger geeignete Umfragen durchführen, in denen nicht nur die Eltern des 1. bis 4. Grundschuljahrgangs erklären sollen, ob sie ihr Kind an einer neu errichteten Gesamtschule anmelden wollen. Einbezogen werden sollen nach Äußerungen von Koalitionspolitikern auch noch die Eltern von Kindern, die das letzte Kindergartenjahr besuchen. Sollte die Landesschulbehörde nach dem Ergebnis der Befragung das Bedürfnis feststellen, wäre der kommunale Schulträger berechtigt, aber - anders als beim herkömmlichen Schulwesen - nicht verpflichtet, eine Gesamtschule zu errichten. Das macht deutlich, dass die Gesamtschulen in Abgrenzung von den "Regelschulen" den Status einer "Angebotsschule" erhalten sollen.

Die Absicht von Schulträgern, durch die Errichtung einer Gesamtschule ihre Schullandschaft neu zu ordnen, wird durch zwei Bestimmungen des Gesetzentwurfs erheblich erschwert. Zum einen soll die Mindestgröße von Integrierten Gesamtschulen von bisher vier auf fünf Züge angehoben werden, was die Anmeldung von etwa 130 Schülerinnen und Schülern pro Schuljahrgang bedeutet. Insbesondere im ländlichen Raum dürfte dieses Quorum nicht erreichbar sein, wenn gleichzeitig die herkömmlichen weiterführenden Schulen "nicht nachhaltig beeinträchtigt" werden dürfen. Für Kooperative Gesamtschulen soll die Mindestgröße zwar nicht erhöht werden; verlangt wird aber, dass der Gymnasialzweig der Schule mindestens zweizügig geführt wird.

Andererseits wird den kommunalen Schulträgern die Möglichkeit genommen, die Kapazität der neu zu errichtenden Gesamtschule zu beschränken. Die bisher gültigen Regelungen für Aufnahmebeschränkungen bei Gesamtschulen sollen nämlich aus dem Schulgesetz gestrichen werden. Die Verpflichtung, so viele Gesamtschulplätze vorzuhalten, wie nachgefragt werden, könnte Schulträger insbesondere in städtischen Bereichen davon abhalten, eine Gesamtschule zu errichten, die ggf. bis zur Maximalgröße von acht Zügen aufgestockt werden müsste.

Die Möglichkeit, bei Überschreiten der Aufnahmekapazität ein differenziertes Losverfahren durchzuführen, sollen die bestehenden Gesamtschulen nur noch übergangsweise bis zum Schuljahr 2010/11 praktizieren dürfen. Danach müssen auch "kleine", aus pädagogischen Gründen z.B vierzügig konzipierte Gesamtschulen damit rechnen, Schülerinnen und Schüler bis zur Maximalgröße aufnehmen zu müssen. Bei betroffenen Schulträgern können Investitionen für notwendige Erweiterungen ggf. dadurch reduziert werden können, dass Gesamtschulen künftig auch Außenstellen führen dürfen.

Neuordnung der beruflichen Grundbildung

Die dem Gesetzentwurf der beiden Koalitionsfraktionen den Namen gebende "Neuordnung der beruflichen Grundbildung" ist eine Konsequenz aus der Gesetzgebung des Bundes. Nach dem 01.08.2009 ist nach dem Berufsbildungsreformgesetz des Bundes die Anrechnung eines Berufsgrundbildungsjahres (BGJ) auf eine Berufsausbildung nicht mehr gewährleistet. Der Besuch eines Berufsbildungsjahres ohne Anrechnung auf die Berufsausbildung würde zusätzlich zu den erheblichen Kosten zu einer Verlängerung der Berufsausbildung um ein Jahr führen. Beabsichtigt ist die Einführung von Berufsfachschulen, die die Inhalte des ersten Ausbildungsjahres eines oder mehrerer Berufe vermitteln. Sinnvoll ist dies aber nur, wenn die Betriebe diese Ausbildung auf freiwilliger Basis auf die Berufsausbildung anrechnen. Die Eingangsvoraussetzung für die Berufsfachschulen wird künftig dementsprechend mindestens der Hauptschulabschluss sein. Der Gesetzentwurf sieht die Abschaffung der Verbindlichkeit von Berufsgrundbildungsjahren spätestens zum 01.08.2009 und die Aufhebung der verpflichtend eingeführten Berufsgrundbildungsjahre vor. Damit können alle das BGJ betreffenden Vorschriften des Schulgesetzes entfallen.

Endgültig gestrichen wird die Berufsaufbauschule, die in der Vergangenheit Jugendliche mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung zum Realschulabschluss führte. Diese Schulform ist deshalb nicht mehr erforderlich, weil schon seit langem mit einer abgeschlossenen dualen Berufsausbildung der Realschulabschluss erworben wird.

Als neue Schulform wird die Berufseinstiegsschule in das Schulgesetz eingeführt. Sie umfasst die neue Berufseinstiegsklasse und das bisher schon vorhandene Berufsvorbereitungsjahr, die beide mit Vollzeitunterricht geführt werden und jeweils ein Jahr dauern. In die Berufseinstiegsklasse werden Schülerinnen und Schüler ohne oder mit schwachem Hauptschulabschluss aufgenommen. Sie können dort ihre Kenntnisse und Fähigkeiten für eine Berufsausbildung verbessern und den Hauptschulabschluss erwerben, der für den Besuch einer Berufsfachschule erforderlich ist. Im Berufsvorbereitungsjahr werden Schülerinnen und Schüler ohne Hauptschulabschluss, die auf eine besondere individuelle Förderung angewiesen sind, auf eine Berufsausbildung oder eine Berufstätigkeit vorbereitet. Nach dem Besuch der beiden vollzeitschulischen Einrichtungen endet für die Betroffenen die Schulpflicht; bisher "ruhte" sie.

Senkung des Einschulungsalters

Nicht nur für die berufsbildenden Schulen, sondern auch für die allgemein bildenden Schulen gilt eine neue Vorschrift, dass für nicht mehr schulpflichtige Schülerinnen und Schüler das Schulverhältnis ohne aufwendiges Verfahren beendet werden kann. Voraussetzung ist, dass aufgrund von Schulversäumnissen nicht mehr zu erwarten ist, dass der Bildungsgang erfolgreich beendet werden kann.

Nach der Verabschiedung der Schulgesetz-Novelle müssen ergänzend die Verordnung für das berufsbildende Schulwesen (BbS-VO) und die Ergänzenden Bestimmungen für das berufsbildende Schulwesen (EBBbS) überarbeitet und an die neuen gesetzlichen Regelungen angepasst werden. Das soll so rechtzeitig geschehen, dass alle Neuregelungen den Schulen vor dem Aufnahmeverfahren ab Februar 2009 für das Schuljahr 2009/10 bekannt sind.

Mit den Änderungen zum Beginn der Schulpflicht greifen die Regierungsfraktionen eine Möglichkeit auf, die die Kultusministerkonferenz bereits im Jahre 1997 eröffnet hatte. Vereinbart wurde damals, die bis dahin bundesweit geltende Regelung für den Schuleintritt zu flexibilisieren. Zum Beginn des Schuljahres sollen die Kinder schulpflichtig werden, die zwischen dem 30. Juni (bisherige Regelung) und dem 30. September das sechste Lebensjahr vollenden. Begründet wurde die damalige Vereinbarung u.a. mit dem im internationalen Vergleich hohen durchschnittlichen Einschulungsalter der Kinder in Deutschland.

Nachdem bereits in einer Reihe von Bundesländern der Einschulungsstichtag verlegt worden ist, soll nun auch in Niedersachsen der Stichtag vom 30. Juni auf den 30. September verlegt werden. Das soll aber nicht in einem Zuge geschehen, sondern in drei Jahresschritten erfolgen. Im Schuljahr 2010/11 werden die Kinder schulpflichtig, die bis zum 31. Juli 2010 das sechste Lebensjahr vollendet haben, 2011 wird dann der Stichtag der 31. August sein und 2012 der 30. September.

Die Verlegung des Einschulungsstichtages in dieser Form war schon einmal im Schulgesetz vorgesehen. Die 1997 eingefügte Verschiebung wurde aber 1999 vor In-Kraft-Treten der ersten Stufe wegen des damit verbundenen höheren Lehrerbedarfs wieder rückgängig gemacht. Die den Gesetzentwurf einbringenden Fraktionen verweisen darauf, dass die jetzt vorgesehene Verlegung in eine Zeit rückläufiger Schülerzahlen fällt. Da gleichzeitig die Klassenobergrenzen in den Grundschulen nahezu flächendeckend nicht erreicht würden, könne grundsätzlich von geringen haushaltsmäßigen Auswirkungen ausgegangen werden. Im ungünstigsten Fall würde sich der Bedarf an Lehrerstunden bei der Verlegung des Stichtages um jeweils einen Monat um vorübergehend ca. 100 Vollzeitlehrereinheiten pro Jahr erhöhen. Von der Verlegung des Einschulungsstichtages haben inzwischen folgende Länder Gebrauch gemacht: Thüringen (1. August), Rheinland-Pfalz (31. August), Baden-Württemberg (30. September), Brandenburg (30. September), Nordrhein-Westfalen (30. September bzw. 31. Dezember), Bayern (31. Dezember), Berlin (31. Dezember).

Von den drei Oppositionsfraktionen wurde der Gesetzentwurf der Koalition heftig kritisiert uns als "Gesamtschulverhinderungsgesetz" bezeichnet. Nur auf dem Papier ließe der Entwurf neue Gesamtschulen zu, in der Realität würden Neuerrichtungen kaum realisiert werden können. Das gelte insbesondere für den ländlichen Raum. Der Gesetzentwurf sei "ein Schlag ins Gesicht der vielen Gesamtschul-Initiativen in Niedersachsen" (DIE LINKE), und "reine Schikane" (Bündnis 90/Die Grünen). Die SPD wies darauf hin, dass das bestehende Errichtungsverbot für Gesamtschulen "nur minimal gelockert" werde und sprach vom Bruch eines Wahlversprechens.

Bruch des Wahlversprechens?

Dieser Vorwurf wurde vom Regierungslager zurückgewiesen. Mit dem jetzt vorgelegten Gesetzentwurf sei genau das erfasst worden, was vom Ministerpräsidenten vor der Landtagswahl am 27. Januar 2008 angekündigt worden sei: Gesamtschulen als Angebot an einzelnen Standorten, die das herkömmliche Schulwesen ergänzen könnten, aber nicht ersetzen dürften. Von der Koalition bekräftigt wurde in der Debatte auch noch einmal, dass Niedersachsen das Land des "bewährten gegliederten Schulwesens" bleiben solle. Bereits im April hatte der Landtag die Gesetzentwürfe der drei Oppositionsfraktionen (SPD, Die Grünen, Die LINKE) debattiert, die die Aufhebung des Errichtungsverbots für Gesamtschulen ohne jede Einschränkung verlangen. Für den 29./30. Mai 2008 ist vom Kultusausschuss des Landtags eine Anhörung der kommunalen Spitzenverbände, der Gewerkschaften und Verbände, der Kirchen, des Landeselternrates und des Landesschülerrates anberaumt worden. Die Ausschussberatungen sollen im Anschluss daran so zügig erfolgen, dass die Entscheidung über die vier Gesetzentwürfe im Juli-Plenum des Landtags getroffen werden kann. Fraglich ist, ob die verbleibende Zeit bis zum Wiederbeginn des Unterrichts nach den Sommerferien für die Schulträger reichen wird, die bereits zum Schuljahr 2008/09 eine Gesamtschule errichten wollen. Im Landkreis Schaumburg scheint der feste politische Wille zu bestehen, das Schuljahr mit drei neuen Integrierten Gesamtschulen zu beginnen.